Samstag, 24. Oktober 2009

“Ich bin drin”

Bericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 24.10.2009

Von Roland Meyer-Arlt

Am kommenden Dienstag treten die Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestages zur konstituierenden Sitzung zusammen. Etwa ein Drittel der Politiker ist neu im Parlament. Wie finden sie sich zurecht? Ein Ortsbesuch.

Die neuen sind heller. Und die Schrift ist etwas kleiner. So recht will das alles noch nicht zusammenpassen. Es sieht so aus, als hätte jemand die alten Namensschildchen nur mit neuem Papier überklebt. Und so ist es auch. Schön ist das nicht. „Nee, dit bleibt aber nicht so“, beeilt sich denn auch der junge Mann im orangefarbenen Hemd zu sagen,der zusammen mit einem Kollegen (weißes Hemd, graue Jeans) die Namensschildchen an den kleinen Fächern anbringt. „Dit wird alles noch mal richtich jemacht“. 622 Täfelchen insgesamt müssen neu geordnet werden. 202 neue Schildchen sind dabei. 622 Abgeordnete hat der 17. Deutsche Bundestag, der am 27. Oktober zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommt, 202 davon sind Neulinge im Parlament.

Der Herr im orangefarbenen Hemd ist nicht neu, er hat schon an einigen Plenarsitzungen teilgenommen. Normalerweise tragen er und sein Kollege andere Kleidung, wenn sie bei der Arbeit sind: Ihr Markenzeichen ist der Frack. Aber wenn im Saal nichts los ist (bis auf eine Besuchergruppe auf der Tribüne, die sich von einer Dame in Blau das Parlament erklären lässt), haben die Saaldiener Zeit für anderes. Die Herren im Frack, die sonst für den reibungslosen Ablauf der Sitzungen des Bundestags sorgen, bereiten jetzt vor, was man für die kommenden Sitzungen benötigen wird – und dazu gehört auch das kleine Regal mit den namentlich gekennzeichneten Fächern. Für die Post der Abgeordneten sind die viel zu klein, es passen gerade mal Kreditkarten hinein. Eine Visitenkärtchenablage? So ähnlich. Das Regal wird später mit Kärtchen gefüllt werden, die die Abgeordneten bei namentlichen Abstimmungen benutzen.

Eines der provisorisch beklebten Fächer trägt den Namen „Knopek, Dr. Lutz“. Der Saaldiener hat das Namensschildchen gerade zwischen „Kauch, Michael“ und „Kober, Pascal“ im Regal der FDP eingeordnet. Die FDP-Abteilung im Regal ist blau, die CDU daneben gelb. Die Bundestagsverwaltung hat eine andere politische Farbenlehre als der Rest der Welt. Überhaupt ist hier auf der Plenarebene des Bundestages einiges anders als draußen. Der Kaffee im Bistro (von „Feinkost Käfer“) kostet 1 Euro, und im Herren-WC hängen die Urinale in abschließbaren Kabinen.

Knopek schaut zu, wie das Schildchen mit seinem Namen im Regal befestigt wird. Ob die Anordnung der Schildchen etwas mit der Platzverteilung im Plenarsaal zu tun hat? Hat sie nicht, die Platzwahl ist frei. Wobei Abgeordnete, die neu im Hohen Haus sind, vielleicht nicht gleich vorn Platz nehmen sollten.

Aber wer sagt so etwas eigentlich denen, die neu sind im Parlament? Für Studenten, die neu an die Uni kommen, gibt es die Orientierungsphase, neue Mitarbeiter in Firmen werden durch Einarbeitungsprogramme geschleust; die 202 Neulinge im Parlament aber sind auf sich gestellt, sie müssen sich durchfragen und sind auf die Ratschläge der älteren Kollegen angewiesen.

Knopek, verheiratet, Vater einer Tochter, hat seinen Wahlkreis in Göttingen und ist schon lange kein Student mehr. Der 51-Jährige ist promovierter Biologe, er hat im Marketing für verschiedene Pharmafirmen gearbeitet, Vertriebsstrukturen in Osteuropa aufgebaut und versucht, innovative Therapien in der Krebsbekämpfung durchzusetzen. Seit 20 Jahren ist er in der FDP aktiv, in Göttingen leitet er den Stadtverband seiner Partei. Beruflich war er immer viel unterwegs; seine Familie weiß, dass er nach Hause kommt, wenn draußen das Taxi dieselt. Und plötzlich ist er wieder ein Anfänger. „Hier ist nichts selbsterklärend“, sagt er beim Eintreten in das Jakob-Kaiser-Haus, das schräg hinter dem Reichstagsgebäude liegt. Hier haben die meisten Abgeordneten ihre Büros, und irgendwo in dem Areal von acht jeweils sechsstöckigen Gebäuden wird Knopeks Büro einmal liegen. Vorerst besteht sein Büro aber nur aus seinem privaten Blackberry, einer Ablage ausAcryl und einem Katzentisch beim Fraktionskollegen Carl-Ludwig Thiele, der seinen Wahlkreis in Osnabrück hat. Thiele ist seit 1990 im Bundestag, seit 2002 ist er stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion. Sein Büro liegt in der sechsten Etage des ersten Gebäudes an der Dorotheenstraße. Hier oben ist so gut wie alles FDP. An den Türen zu manchen Abgeordnetenbüros hängen – als ob das hier jemanden beeindrucken könnte – immer noch Wahlplakate. Ansonsten wirken die holzbetonten Bürofluchten nicht protzig, sondern hell und leicht. Es ist wohl ein Glück für Knopek dass er bei so einem alten Hasen wie Thiele untergekommen ist. Der kennt sich aus und kann Ratschläge geben. Hier, am kleinen Konferenztisch in Thieles Büro, kann Knopek jetzt mit dem wichtigsten anfangen: dem Aufbau eines eigenen Teams. Jedem Bundestagsabgeordneten stehen 14 712 Euro für Personalausgaben zur Verfügung. Die meisten leisten sich davon drei Mitarbeiter: zwei in Berlin, einen in ihrem Wahlkreis. Ein Teil des Geldes wird meist auch für studentische Hilfskräfte und Praktikanten ausgegeben. Theoretisch könnte ein Abgeordneter seinen gesamten Personaletat auch für die Beschäftigung einer brasilianischen Tanzcombo oder eines Astrologenteams ausgeben. Er könnte so entscheiden, wenn er es für richtig hielte – die Freiheit des Abgeordneten ist ein hohes Gut. Allerdings dürften ihm Tänzerinnen und Astrologen bei der Bewältigung seiner Aufgaben nicht viel weiterhelfen.

Finanziert werden die Mitarbeiter aus dem Etat der Bundestagsverwaltung. Die Verwaltung des Bundestages ist eine oberste Bundesbehörde, und sie ist ziemlich groß: Etwa 2500 Beschäftigte kümmern sich darum, dass das Parlament vernünftig arbeiten kann. Der Etat lag 2007 bei 595 Millionen Euro im Jahr. Demokratie gibt’s nicht zum Nulltarif. Knopek hat bereits zwei seiner zukünftigen Mitarbeiter gefunden, einen persönlichen Referenten und eine wissenschaftliche Mitarbeiterin. Der dritte Mitarbeiter soll ihn bei seiner Arbeit im Wahlkreis unterstützen. Ansonsten wartet er noch, bis die Frage entschieden ist, in welchen Ausschuss er kommt. Die Arbeit in den Ausschüssen ist das Wichtigste an der parlamentarischen Tätigkeit, hier wird Politik gemacht – in den Abstimmungen des Bundestags kommt sie zum Abschluss. Knopek, der Biologe aus der Pharmabranche, hofft auf einen Sitz im Gesundheitsausschuss. Hier, sagt er, kenne er sich aus und könne seine Sachkompetenz einbringen. Der Ausschuss für Wissenschaft und Forschung würde auch passen. Aber weil der auch für Bildung zuständig ist, hätte man es möglicherweise mit Lehrern zu tun, die vielleicht ideologisch befrachtete Debatten wie vor 30 Jahren führen. Daher: lieber nicht. Aber Gesundheitspolitik wäre natürlich großartig. Die Ulla Schmidt, sagt Knopek, habe ja in all den Jahren nie geschafft, was sie sich vorgenommen habe. Und dann redet er, als ob immer noch Wahlkampf und sein Platz hinterm Tresen des FDP-Standes in der Göttinger Innenstadt wäre: „Jenseits der Pose hat Ulla Schmidt doch immer genau das Gegenteil von dem gemacht, für was sie eingetreten ist.“ Es sei, sagt er, doch extrem wichtig, dass jedem Menschen, ganz unabhängig vom Einkommen bei lebensbedrohlichen Krankheiten rettende Therapien zur Verfügung stünden, auch wenn die nun mal sehr teuer seien. Hier ist Knopek in seinem Element. Ulla Schmidt habe sich vor wichtigen Fragen gedrückt und es so versäumt, nachhaltige Erstattungsregelungen für den Bereich der Bagatellmedizin zu …

Plötzlich packt ihn eine Leidenschaft, die ihm sonst eher fremd scheint. Denn im Grunde ist Knopek ein eher zurückhaltender Mensch. Er spricht leise, drückt sich gewählt aus, und er verkörpert durchaus diese gewisse Musterknabenhaftigkeit, die man gerade FDP-Politikern gern anlastet. Beim „Trivial Pursuit“ ist Knopek kaum zu schlagen, er kennt sich hervorragend in der Popgeschichte aus und weiß, dass Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ihr jüngstes Buch zusammen mit dem 2006 verstorbenen Dichter Oskar Pastior geschrieben hat. Er weiß ziemlich gut Bescheid, und das verleiht ihm eine gewisse Sicherheit, die nicht so groß ist, dass sie wie Nonchalance wirkt. Im Grunde ist er ein stiller Charakter, der es nicht nötig hat, laut zu werden.

Doch wenn’s um Gesundheitspolitik geht, ist da ein merkwürdiges Feuer, ein Kampfgeist und Veränderungswille zu spüren, den man bei dem 51-Jährigen nicht erwartet hätte. Er ist fest davon überzeugt, zumindest im Gesundheitswesen einiges verändern zu können. „Natürlich will ich gestalten“, sagt er. 20 Jahre lang hat er ehrenamtlich Politik gemacht, auf lokaler Ebene, jetzt sieht er die Chance, wirklich etwas zu bewegen. Und die Sachzwänge? Die Einflussnehmer? Die Lobbyisten? „Vor 20 Jahren hätte ich sicher geglaubt, ich könnte frei davon agieren. Das glaube ich so nicht mehr.“ Im Übrigen seien auch unter den Lobbyisten „sehr sachkundige Leute“. Der Abgeordnete ist zuversichtlich: „Das werden sicher wichtige Gesprächspartner für mich werden.“

Noch liegen aber keine Informationsbroschüren von Ärzteverbänden oder Pharmafirmen in Knopeks Ablagekörbchen. Stattdessen findet sich dort unter anderem der „Tätigkeitsbericht der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 2008“, eine Einladung in die interfraktionelle Verbindung „Luft- und Raumfahrt“, Grüße des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, des Christlichen Bauernverbandes und der Bundesvereinigung der Spirituosenhersteller. Man übermittelt herzliche Glückwünsche und hofft auf eine gute Zusammenarbeit.

Beantworten konnte der neue Bundestagsabgeordnete davon bislang kaum etwas. „Das muss warten, bis das Büro steht“, sagt er. Wenn ein eigener Schreibtisch da ist, ein eigener Telefonanschluss und eine offizielle EMail-Adresse, soll’s losgehen. „Was ich im Moment gut brauchen könnte, wäre eine erfahrene Sekretärin“, sagt Knopek.

Bereits am Tag nach der Bundestagswahl quoll sein privates E-Mail-Postfach über: lauter Initiativbewerbungen. Um die hat er sich dann ein paar Tage später gekümmert. Erst mal musste er am Montag nach der Wahl um 7.03 Uhr in Göttingen in den ICE nach Berlin steigen, denn dort stand für alle neuen und alten Mitglieder der FDP-Fraktion eine Sitzung auf dem Programm. Danach hat er die ersten Dokumente erhalten, die ihn als Mitglied des 17. Deutschen Bundestages ausweisen: ein vorläufiger Abgeordnetenausweis und eine Netzkarte für die Deutsche Bundesbahn, erster Klasse. Die berechtigt auch zu kostenlosen Fahrten mit der Berliner S-Bahn, in der U-Bahn aber gilt sie nicht.

Dass er Mitglied des 17. Bundestags sein würde, bekam Knopek noch in der Wahlnacht schriftlich. Um 4.16 Uhr erreichte ihn eine SMS der Bundestagsverwaltung. Sie begann mit zwei Worten: „Herzlichen Glückwunsch …“ Vorher hatte er sich bereits selbst gratuliert. Das war kurz nach zwei Uhr in der Nacht, als im Wahlkreis Pinneberg endlich die Stimmen ausgezählt waren. Da erst war klar, dass ihm von seinem neunten Listenplatz aus der Einzug ins Parlament glücken würde. Das Problem waren die unterschiedlichen Ergebnisse für die FDP in verschiedenen Bundesländern. In Baden-Württemberg lag die Partei bei 18,8 Prozent, in Niedersachsen nur bei 13,3 – wie viele Kandidaten aus welcher Landesliste in den Bundestag einziehen, bemisst sich nach dem Stimmenverhältnis zwischen den Bundesländern. In der Nacht ist der Kandidat mehrmals an seinen Laptop gegangen, um unter „Bundeswahlleiter.de“ nachzuschauen, wann die Pinneberger mit dem Zählen fertig sind und wie das vorläufige amtliche Endergebnis – und damit auch seine Zukunft – aussehen wird.

Ob Knopek den Sprung schaffen würde, war lange ungewiss. Die Prognosen für seine Partei waren das ganze Jahr über Liste keine sichere Fahrkarte nach Berlin. „Beruflich durfte ich
natürlich nichts anbrennen lassen“, sagt Knopek. Jetzt ist er für die Legislaturperiode freigestellt. Am Tag, als das amtliche Endergebnis feststand, hat er seinen Dienstwagen zurückgegeben; damit enden vorerst auch die Gehaltszahlungen seiner Firma.

Finanziell, sagt er, stehe er jetzt als Abgeordneter nicht besser da als zuvor, eher ein wenig schlechter. Abgeordnete beziehen kein Gehalt, sie erhalten eine „Aufwandsentschädigung“. Der offizielle Begriff klingt ein bisschen irreführend, so als würden Parlamentarier irgendwie Schaden nehmen, wenn sie tätig werden. Die Aufwandsentschädigung ist für alle Abgeordneten gleich, sie soll ihre Unabhängigkeit sichern und eine Lebensführung gestatten, „die der Bedeutung des Amtes angemessen ist“. So hat es das Bundesverfassungsgericht
beschlossen. Die monatlichen Bezüge eines Abgeordneten betragen derzeit 7668 Euro, die Altersvorsorge ist gut, aber längst nicht mehr so komfortabel wie früher. Inlandsflugkosten werden ersetzt, soweit sie in Ausübung des Mandates anfallen. In Berlin dürfen die Abgeordneten  den Fahrdienst des Bundestages nutzen.

Einmal hat Lutz Knopek das schon in Anspruch genommen. Bei Regen und Hagel hat er sich im schwarzen Mercedes vom Hauptbahnhof zum Jakob-Kaiser-Haus fahren lassen. Dann hat er sich an den Katzentisch gesetzt. Und erst mal angefangen.

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